Willi Lemke: „Die Kraft des Fußballs ist riesig!“
25. Mai 2020 Zurück zur Artikelübersicht »

Willi Lemke war unter anderem Manager des SV Werder Bremen und Sonderberater des UN-Generalsekretärs für Sport im Dienste von Frieden und Entwicklung. Seit dem Jahr 2016 zählt der 73-Jährige zum Kuratorium der DFB-Stiftung Egidius Braun. Im Gespräch mit Sven Winterschladen erklärt Lemke, welche Rolle der Fußball in Afrika, Osteuropa und Mexiko spielt und wie der Sport dabei helfen kann, gesellschafts- und entwicklungspolitische Probleme zu lösen.

 

Engagiert für die DFB-Stiftung Egidius Braun: Willi Lemke.

Herr Lemke, warum ist Ihnen die Aufgabe im Kuratorium der DFB-Stiftung Egidius Braun so wichtig?

Willi Lemke: Ich hatte das große Glück, 35 Jahre im Profifußball arbeiten zu dürfen. 17 Jahre als Manager des SV Werder Bremen und im Anschluss im Aufsichtsrat. Dabei habe ich unglaublich viele nationale und internationale Erfahrungen und Kontakte sammeln können. In meiner Funktion in der DFB-Stiftung Egidius Braun kann ich davon nun ein wenig zurückgeben und mich so in dieser Funktion einbringen. Es ist mir eine Ehre, Teil des Kuratoriums sein zu dürfen.

Was verbindet Sie mit Egidius Braun?

Willi Lemke: Er ist einer meiner ältesten Fußballbekannten in Deutschland. Wir kennen uns mindestens seit der Weltmeisterschaft 1986 in Mexiko. Ich schätze ihn als sehr gradlinigen, hilfsbereiten und liebenswerten Menschen. Egidius war ein toller Präsident des Deutschen Fußball-Bundes. Er hat in dieser Zeit einige wichtige Projekte angestoßen, zum Beispiel die Mexico-Hilfe oder die Initiativen „Mein Freund ist Ausländer“ und „Keine Macht den Drogen“.

Wie war die Zeit damals in Mexiko?

Willi Lemke: Wir haben dort einige schöne Tage verbracht und gleichzeitig größte Not gesehen. Egidius Braun hat Wort gehalten und wenige Tage nach der Rückkehr nach Deutschland die Mexico-Hilfe etabliert. Das war damals schon vor Ort ein Thema während unserer Gespräche.

Brauns wahrscheinlich prägendste Forderung war: „Fußball – Mehr als ein 1:0“. Stimmen Sie mit ihm überein?

Willi Lemke: Zu 100 Prozent. Ich wusste gar nicht, dass dieses Zitat ursprünglich von ihm stammt. Aber es passt absolut zu ihm als Persönlichkeit. Ich habe diesen Satz in den vergangenen Jahren nicht nur sehr oft gehört, sondern mindestens genauso häufig selbst verwendet, weil er einfach total passend ist. Gerade während meiner Tätigkeiten zuletzt für die Vereinten Nationen habe ich mich etwas distanziert von dem Grundsatz, dass das nächste Spiel um jeden Preis gewonnen werden muss. Egal wie, egal gegen wen. Diese Einstellung hatte ich als Werder-Manager. Heute sehe ich das ganz anders.

Wie denn?

Willi Lemke: Ich bin in den vergangenen Jahren in so viele Länder gereist, in denen Fußball eine ganz andere gesellschaftliche Rolle spielt als bei uns in Deutschland. Da habe ich erleben können, dass Fußball weit mehr als ein 1:0 ist.

Nennen Sie doch bitte einmal Beispiele.

Willi Lemke: Nehmen wir Afrika, konkret Kenia, Uganda oder Südafrika. Das sind Länder, die ich besonders oft besucht habe. Ich durfte dort Projekte mit ganz wunderbaren Menschen kennenlernen und fördern, die extrem arm und gleichzeitig total reich waren, weil sie im Fußball eine Berufung gefunden haben. Viele haben selbst gekickt, aber ganz anders, als wir es hier kennen. Da gibt es keine schicken Lederbälle, sondern man sieht überall selbst gestaltete Jualas aus Lumpen, Papier und Plastik, fixiert mit Bindfäden. Gute Exemplare halten zwei Stunden, manche aber auch nur viel kürzer. Damit spielen die Kinder dort mit größter Begeisterung auf Felsen oder Steinen, oft sogar barfuß. Das hat mich sehr beeindruckt. 98 Prozent des Fußballbetriebs in solchen Ländern ist unorganisiert, findet also nicht in einem Ligabetrieb statt. Dafür sind der Einsatz und die Leidenschaft umso größer. Für ganz viele Kinder in Afrika, aber auch in fast allen anderen Teilen der Welt sind der Sport und der Fußball im Speziellen sehr wichtig, weil er ihnen eine sinnvolle Beschäftigung bietet. So haben sie keine Langeweile, so geraten sie seltener in kriminelle Milieus, so spielen Drogen hoffentlich keine Rolle in ihrem Leben. Und bei jugendlichen Fußballerinnen bewirkt der Fußball, dass sie nicht so leicht in die Prostitution abrutschen. Man kann das natürlich nicht pauschalisieren. Aber die Kraft des Fußballs ist riesig und wir haben sie doch alle schon kennengelernt. Wir können sie jedoch noch besser nutzen.

Liegt Ihnen als früherem UN-Sonderberater für Sport im Dienste von Frieden und Entwicklung dieses Thema besonders am Herzen?

Willi Lemke: Ja, natürlich. Der Fußball ist einfach eine wunderbare Abwechslung im Leben der Kinder und Jugendlichen in schwierigen Verhältnissen. Ich habe in dieser Funktion unglaublich tolle Geschichten gehört.

Zum Beispiel?

Willi Lemke: Ich habe in Sambia einmal mit einem Mädchen gesprochen, das mir etwas erzählt hat, das mich total berührt hat. Sie hat in einem Sportkomplex des IOC eine Mädchengruppe im Fußball betreut. Sie musste dafür von ihrem Zuhause eine Strecke von 20 Kilometern zurücklegen. Ich habe sie gefragt, wie sie das mache. Sie sagte nur: „Dear Mister Willi, ich bekomme eine kleine Flasche Wasser und zwei Bustickets.“ Aber dann stellte sich heraus, dass sie diese Fahrkarten gar nicht nutzt, sondern den ganzen Weg zu Fuß zurücklegt. Warum sie das denn mache, wollte ich wissen? „Ich gebe die Bustickets meiner Mama, die diese dann gegen Lebensmittel eintauschen kann“, antwortete sie. Das fand ich sehr beeindruckend. Das Mädchen war ungefähr 16 Jahre alt. Solche Geschichten gefallen mir. Ich habe mich immer bemüht, solchen Menschen eine Perspektive zu geben und sie zum Beispiel zu Fortbildungsprogrammen einzuladen und sie so zu stärken. Viele haben auf diesem Weg das erste Mal Anerkennung gespürt. Viele Afrikaner haben mir zum Beispiel gesagt, dass sie sich niemals hätten vorstellen können, so gleichberechtigt wie ihre weißen Mitmenschen empfangen zu werden. Das war für mich immer sehr berührend.

Weltweit begeistert der Ball die Menschen, das ist die eigentliche Stärke des Sports und gerade des Fußballsports.

Ist das die Rolle, die der Fußball in diesen Gebieten einnehmen sollte?

Willi Lemke: Ja, das zeigt die Kraft des Fußballs. Aber man darf den Sport auch nicht überschätzen. Ich habe im Rahmen meiner Förderprojekte auch Fälle erlebt, in denen er nicht helfen konnte. Ich hatte Kontakt zu Basketballerinnen, die mit 15 Jahren schwanger geworden sind und die dann die Schule abbrechen mussten. Dadurch hat sich ihr Leben komplett verändert – meist leider nicht zum Guten.

Also ist es richtig, dass sich die DFB-Stiftung Egidius Braun in den genannten Regionen so engagiert?

Willi Lemke: Auf jeden Fall. Kinder und Jugendliche in diesen Gebieten haben den Traum, der nächste Messi oder Eto‘o zu werden und Millionen von Euro zu verdienen. Man muss ihnen auf den Bolzplätzen der Welt deutlich machen, dass das nicht ihre Zukunft ist. Alle wollen so schnell wie möglich von einem Berater nach Europa gebracht werden.

Was antworten Sie dann?

Willi Lemke: Dass sie sich das Geschäft wie einen riesigen Eisberg vorstellen müssen, bei dem nur eine kleine Spitze aus dem Wasser ragt. Und selbst diejenigen, die zu der Spitze gehören, können meist mit ihren Einnahmen nicht ihre Familie ernähren, weil sie in Europa oft in der vierten, fünften oder sechsten Liga spielen. Wenn sie Glück haben, reicht das verdiente Geld gerade für den Rückflug in die Heimat. Dramatisch an der Sache ist, dass sie das viele Geld meist nicht für sich selbst verdienen wollen, sondern für ihre Angehörigen. Es ist bitter zu sehen, wie für sie dieser Traum nicht in Erfüllung geht. Aber wir müssen ihnen klarmachen, dass ihnen eine gute Schulausbildung und vielleicht ein Studium eine bessere Perspektive bieten als der Weg zum Fußballprofi. Damit setzen sie auf die falsche Karte und lassen sich von der Welt der Fußballmillionäre blenden. Und genau das sind ja auch die Punkte, die der DFB-Stiftung Egidius Braun so wichtig sind.

Welche Projekte sind Ihnen in diesem Zusammenhang besonders in Erinnerung geblieben?

Willi Lemke: Ich persönlich war in der jüngeren Vergangenheit zweimal direkt involviert. Einmal waren Jugendliche aus verschiedenen Fußballvereinen zu einer Fußball-Ferien-Freizeit in Malente zusammengekommen. In diesem Zusammenhang habe ich aus meiner Lebenserfahrung über die Werte des Sports für die Entwicklung und den Frieden berichtet. Und das andere Mal war das die Challenge Academy, das gemeinsame Projekt mit der Klitschko Foundation. Da hatte ich einen sehr guten Austausch mit Jugendlichen aus Deutschland und der Ukraine.